Wahrscheinlich kannst du dich gar nicht mehr daran erinnern, oder du denkst an die Sommerferien während deiner Schulzeit zurück. An die endlos langen, unbeschwerten Tage. Danach hat es vermutlich kaum noch Zeiten gegeben, die dir ähnlich in Erinnerung geblieben sind.
Gab es überhaupt mal ein Wochenende, an dem du dich so gelangweilt hast, dass du aus purer Verzweiflung heraus eine neue Sprache lernen wolltest oder dringend nach einem neuen Hobby gesucht hast? Nein? Das dachte ich mir.
Und genau da liegt das Problem. Wir haben verlernt, uns zu langweilen. Unser vollgestopftes Leben lässt uns überhaupt keine Gelegenheit mehr dazu. Der Alltag besteht aus einer Aneinanderreihung von Aufgaben und Verpflichtungen. Täglich müssen wir eine scheinbar endlose To-Do-Liste abarbeiten, und Langeweile ist ein Fremdwort, zu dem wir schon längst keinen Bezug mehr haben.
Als Kind war Langeweile ein Unwort. Nichts fürchtete man mehr. Doch wie viele Dinge aus unserer Kindheit wünschen wir uns heute als Erwachsene zurück? Da wären zum Beispiel:
💛 lange ausschlafen
💛 keine Verantwortung zu tragen
💛 bekocht werden
💛 sich jeden Nachmittag mit Freunden treffen
💛 Sommerferien
Dinge, die wir erst als Erwachsene so richtig zu schätzen gelernt haben und an die wir uns an manchen Tagen sehnsüchtig erinnern. Heute würden wir uns ganz gerne ab und zu langweilen. Oder ohne schlechtes Gewissen stundenlang im Bett liegen bleiben. Stattdessen haben wir den Kopf voller Sorgen, die uns nachts den Schlaf rauben.
Aber ist es wirklich so, dass wir uns heute nicht mehr langweilen können? Liegt es an der Zeit, in der wir leben, oder besteht das Problem nicht auch darin, dass wir durch unser eigenes Verhalten dazu beitragen, alles noch schlimmer zu machen?
Ich ertappte mich dabei, dass ich jede Minute meines Tages ausfüllte. Ich war vollkommen gestresst und überdreht. Mein Nervensystem war überlastet von all den Informationen, Aufgaben und Nachrichten, die ständig auf mich einprasselten. Aber ich habe auch nicht wirklich etwas getan, um diesen Einfluss zu reduzieren. Im Gegenteil – ich habe es sogar noch gefördert, weil ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe, was ich da eigentlich mache.
Der Wendepunkt kam durch einen Ostseeurlaub im Winter. In dieser Woche habe ich (wie eigentlich während jeder Reise) mein Verhalten automatisch geändert, ohne vorher bewusst eine Entscheidung getroffen zu haben. Verhaltensmuster, die sonst im Alltag ganz normal sind, habe ich dort weggelassen.
Und das Ergebnis war, dass ich mich erholt habe. Ich konnte endlich wieder aufatmen. Ich habe dieses Phänomen immer mit der Wirkung von Urlaub und freier Zeit in Verbindung gebracht. Wahrscheinlich hätte ich auch dieses Mal nicht weiter darüber nachgedacht, sondern wäre einfach wieder zu meinem normalen Tagesablauf zurückgekehrt. Die Lösung hingegen wäre ganz offensichtlich gewesen: Ich brauche einfach mehr Urlaub.
Doch mir ist aufgefallen, dass in dieser Woche einige Faktoren besonders deutlich hervorstachen und viel stärker vertreten waren als bei früheren Reisen: Ruhe, Stille, Langeweile.
Denn dieser Urlaub war anders als die bisherigen. Ich war noch nie im Winter auf einer Ostseeinsel. Zuvor hat sich mein Reiseverhalten eher auf die Sommermonate beschränkt. Außerdem hätte ich bereits im Vorfeld einen detaillierten Plan mit allen Aktivitäten und Sehenswürdigkeiten vorbereitet gehabt. Ich hätte jede Stunde Tageslicht optimal nutzen wollen. Ich reise gerne und habe grundsätzlich das Bedürfnis, möglichst viel zu sehen und neue Eindrücke zu gewinnen.
Doch die Insel und vor allem das Wetter machten mir buchstäblich einen Strich durch die Rechnung. Ein heftiger Wintersturm hat meine Pläne ausgebremst, und auch der Alltag auf der Insel und das Verhalten der Menschen dort zeigten mir, dass Stress und Ungeduld hier völlig fehl am Platz waren. Ich hatte das Gefühl, mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Wand zu laufen.
Ich wurde gezwungen, mich anzupassen, und das war gut so. Lange Strandspaziergänge, Lesestunden, Kaffeetrinken in gemütlichen Cafés ließen mein Nervensystem zur Ruhe kommen. Außer dem Brausen des Windes und dem Rauschen des Meeres gab es kaum Lärm, der mich abgelenkt hätte. In der Nacht war es fast gespenstisch still, und zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich wirklich innegehalten und das Tempo reduziert.
Die positiven Veränderungen machten sich schnell bemerkbar. Ich hatte plötzlich neue Energie, meine Kreativität kehrte zurück (die gegen Ende des Jahres kaum noch vorhanden gewesen war) und ich fühlte mich ruhiger. Aber eines war mir sofort klar: Sobald dieser Urlaub vorbei war, würde ich dieses Gefühl nur noch wenige Tage im Alltag aufrechterhalten können. Denn ich lebe nicht auf einer Ostseeinsel. Und mein Alltag ist deutlich stressiger.
Doch ich war nicht bereit aufzugeben. Ich wollte etwas verändern und dieses Gefühl langfristig behalten. Nachdem ich die in diesem Moment naheliegendste, aber auch unrealistischste Lösung (Job kündigen, umziehen und auf einer Ostseeinsel neu anzufangen) wieder verworfen hatte, musste ich andere Wege finden. Denn ich mag mein Leben, ich will gar nicht alles ändern, aber ich möchte, dass es weniger stressig ist. Und schnell kam mir der Satz in den Sinn, der für mich zu einer Art Mantra geworden ist, weil er schon so oft mein Leben zum Besseren verändert hat:
Weniger ist leichter!
Es klingt so einfach und im Grunde ist es das auch. Wenn alles zu viel wird, dürfen wir nicht versuchen, das Tempo zu erhöhen, um mit der ohnehin schon zu schnellen Welt Schritt zu halten. Stattdessen sollten wir bewusst etwas Abstand nehmen, tief durchatmen und uns die aktuelle Situation anschauen. Damit meine ich, das eigene Verhalten mal ganz genau (und ohne Wertung) zu beobachten. Es dauert oft nicht lange, bis die ersten Muster erkennbar sind.
Ich habe schnell herausgefunden, worin das Hauptproblem besteht, weshalb mir nie langweilig werden kann: Ich bin ständig beschäftigt. Das heißt nicht, dass ich die ganze Zeit unglaublich produktiv bin, ganz im Gegenteil. Doch ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, konstant Informationen aufzunehmen und mich unterhalten zu lassen.
Sobald ich die Wohnung verlassen habe, hatte ich die AirPods im Ohr. Es war ein Automatismus, der mir lange nicht bewusst gewesen ist. Wenn sich die Gelegenheit ergab, nutzte ich die Zeit, um mit meinen abonnierten Podcasts auf dem Laufenden zu bleiben, mal wieder ein Hörbuch oder Musik zu hören. Ich gab der Stille keine Chance, mich zu erreichen. Ich wollte mich überhaupt nicht langweilen. Ich wollte unterhalten werden.
Wie oft habe ich mich schon bei dem Gedanken ertappt, dass es mich ärgert, während langen Autofahrten als Beifahrerin kein Buch lesen zu können, ohne dass mir schlecht wird. Dass der Staubsauger zu laut ist und ich keinen Hörschaden riskieren will, indem ich mit der Lautstärke der Musik versuche, dagegen anzukommen. Dass es doch völlige Zeitverschwendung ist, nur eine Sache zu tun, wenn man gleichzeitig noch etwas anderes machen könnte.
Als ich jedoch anfing, im Internet nach Lautsprechern für die Dusche zu suchen, wusste ich, dass der Punkt erreicht war, an dem es eindeutig zu weit ging. Denn nicht selten habe ich gerade unter der Dusche gute Einfälle oder neue Ideen. Und warum? Weil ich dann Zeit zum Nachdenken habe.
Mir wurde klar, dass mein eigenes Verhalten nicht dazu beiträgt, mein Leben leichter zu machen. Der Alltag ist stressig genug, da musste ich das Tempo nicht zusätzlich erhöhen.
Ich wusste, dass die Lösung bedeutet: Weniger ist mehr.
Doch wo fange ich an? Wie setze ich das Vorhaben langfristig um? Denn ich weiß, wie schnell man in alte Verhaltensmuster zurückfällt und neue Gewohnheiten einzuführen ist nicht immer einfach. Aber ich meinte es ernst und wollte wirklich etwas verändern.
Was ich getan habe:
✔️ Zuerst habe ich eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation gemacht. Ich habe mein Verhalten in alltäglichen Momenten beobachtet und fand Dinge, die sich leicht ändern ließen.
✔️ Ich habe klein angefangen und mir zunächst abgewöhnt, die AirPods bei jeder Gelegenheit in die Ohren zu stecken. Stattdessen versuche ich nun, bei kurzen Fußwegen meine Umgebung aufmerksam wahrzunehmen und auf die Geräusche um mich herum zu achten. Plötzlich fallen mir kleine Details wieder auf und ich nehme Veränderungen in der Landschaft besser wahr. Ich habe gelernt, diese kleinen Pausen zu schätzen, in denen ich nichts anderes tun muss, als einen Fuß vor den anderen zu setzen und meine Gedanken schweifen lassen kann.
Dinge, die mir geholfen haben:
💡 eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation machen
💡 klein anfangen und eine Sache weglassen, die Stress auslöst
💡 wenn das Bedürfnis nach Ablenkung und Unterhaltung aufkommt, bewusst innehalten und überlegen, ob ich mir damit tatsächlich einen Gefallen tue oder lediglich den einfachen Weg wähle
💡 das anfänglich unbehagliche Gefühl aushalten, wenn man plötzlich allein mit seinen Gedanken ist
💡die Stille wertschätzen
Seitdem ich einige Verhaltensweisen geändert habe, die mir vorher im Alltag ganz normal erschienen, geht es mir deutlich besser. Diese kleinen Veränderungen haben einen großen Unterschied gemacht. Ich fühle mich weniger gestresst, wähle sorgfältiger aus, womit ich meine Zeit verbringe und bin dadurch ruhiger geworden.
In Phasen, in denen es besonders stressig ist, versuche ich mich daran zu erinnern, regelmäßig tief durchzuatmen und immer wieder kleine Pausen einzulegen (auch wenn es schwerfällt und man meint, keine Zeit dafür zu haben).
“Du solltest am Tag 20 Minuten meditieren. Außer du hast keine Zeit dafür. Dann solltest du für eine Stunde meditieren.”
Altes Zen-Sprichwort
Natürlich hat es auch Rückschritte gegeben, und es wäre unrealistisch, etwas anderes zu erwarten. Es gab Tage, an denen ich frustriert, genervt und schlichtweg überarbeitet gewesen war, was dazu führte, dass ich in alte Verhaltensmuster zurückgefallen bin. Aber meistens fühlte ich mich nach einem solchen Tag sofort schlechter, weshalb ich schnell wieder zu meinen neuen Verhaltensweisen zurückgekehrt bin.
Es hat mir gezeigt, dass es richtig gewesen ist, etwas zu verändern. Auch wenn es nur kleine Veränderungen waren und kein Neuanfang an der Ostsee, bin ich jetzt doch um einiges zufriedener.